Staub vom Erdboden

Kerstin Marzinzik

Ist die Aussage in 1.Mo 2,7, dass Gott den Menschen aus »Staub vom Erdboden« bildete, buchstäblich zu verstehen?

Und Gott der HERR bildete den Menschen, Staub vom Erdboden, und hauchte in seine Nase den Odem des Lebens; und der Mensch wurde eine lebendige Seele. (1.Mo 2,7)

Vertreter des Kurzzeitkreationismus gehen davon aus, dass die Schöpfungsberichte in 1. Mo 1 + 2 wörtlich verstanden werden müssen. Die Erde sei folglich jung und in nur 6 Tagen durch Gottes direktes Wirken entstanden. Vertreter einer Schöpfung durch Evolution halten dagegen die naturwissenschaftlichen Belege für eine alte Erde und die Evolution des Lebens für zuverlässig und plausibel und verstehen den Schöpfungsbericht symbolisch. Kein Christ nimmt heutzutage die gesamte Bibel wörtlich. So ist z. B. in Psalm 75,4 von den Säulen der Erde die Rede:

Es wanken die Erde und alle ihre Bewohner: Ich habe ihre Säulen festgestellt. (Ps 75,4)

Aber die Naturwissenschaft hat längst festgestellt, dass die Erde eine Kugel ist, die sich im Weltraum bewegt und nicht auf Säulen ruht. Das wird heute von allen akzeptiert und folglich die Aussage in Ps 75,4 symbolisch verstanden.

Es geht bei der Auseinandersetzung um das Thema »Schöpfung und Evolution« also nicht darum, ob die Bibel an bestimmten Stellen symbolisch zu verstehen ist, sondern lediglich darum, ob (auch) der Schöpfungsbericht symbolisch zu interpretieren ist oder nicht.

Interessant ist nun, dass nicht nur in 1.Mo 2,7 gesagt wird, dass Gott den Menschen aus Staub vom Erdboden bildete. Ein ganz ähnliches Bild findet sich auch in Hiob 10,8-9:

Deine Hände haben mich ganz gebildet und gestaltet um und um, und du verschlingst mich! Gedenke doch, dass du mich wie Ton gestaltet hast – und zum Staub willst du mich zurückkehren lassen! (Hi 10,8-9)

Zwar stehen hier im Grundtext andere Verben als in 1.Mo 2,7, aber das verwendete Bild ist ganz ähnlich: Hiob sagt, dass Gott ihn ganz gebildet und gestaltet hätte – ähnlich wie ein Töpfer ein Objekt aus Ton. Aber es gibt wohl keinen Christen, der deshalb glauben würde, dass Gott Hiob eigenhändig geschaffen hätte, so wie manche das von Adam denken. Hiob ist durch die ganz normalen biologischen Prozesse im Leib seiner Mutter herangewachsen wie wir alle auch. Das erwähnt Hiob übrigens auch (sogar im gleichen Kapitel):

Warum hast du mich aus dem Mutterleib hervorgezogen? (Hi 10,18)

Natürlich ist Hiob ein Geschöpf Gottes, wie jeder Mensch – aber eben auf natürlichem Wege, d. h. mittels naturwissenschaftlicher Prozesse entstanden. Wenn das für die Aussage in Hiob 10,8-9 gilt, warum dann nicht auch für die Erschaffung der Menschheit?

Vielleicht wird mancher aufmerksame Leser nun einwenden, dass die Bilder zwar ähnlich, aber in 1.Mo 2,7 ja andere Verben benutzt werden und daher doch ein Unterschied besteht. Deshalb betrachten wir zum Abschluss noch eine Aussage des Propheten Jesaja:

Und nun, Herr, du bist unser Vater; wir sind der Ton, und du bist unser Bildner, und wir alle sind das Werk deiner Hände. (Jes 64,7)

Wieder das gleiche Bild – Gott als Schöpfer bzw. Töpfer und wir Menschen als seine Gebilde, obwohl wir alle wissen, dass Gott uns nicht »aus dem Nichts«, sondern mittels biologischer Prozesse geschaffen hat. Bemerkenswert ist nun, dass das Wort »Bildner« die gleiche Hebräische Wurzel hat wie das Wort »bildete« in 1.Mo 2,7!

Die Aussagen in Hiob 10 und Jes 64 über das Schöpfungshandeln Gottes schließen natürliche, naturwissenschaftliche Prozesse folglich nicht aus (im Gegenteil: sie setzen sie sogar voraus). Folglich gibt es auch keinen Grund dafür, bei den Schöpfungsberichten in 1.Mo 1 und 2 naturwissenschaftliche Prozesse auszuschließen.